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Corona-Maßnahmen verfassungswidrig II

Sind die Maßnahmen des Bundes und der Länder zum sogenannten Shut-Down nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verfassungswidrig?

Bisher wird die Frage der Verfassungsmäßigkeit der Maßnahmen der Bundesregierung und des Bundesgesetzgebers zur sogenannten Bekämpfung des Corona-Virus, die von den Landesregierungen gleichsam wie untergeordnete Verwaltungseinheiten durch Rechtsverordnungen ergänzt und vollzogen werden, wie insbesondere den Shut-Down und die durch Rechtsverordnung der Länder teilweise unterschiedlich gestalteten Maßnahmen von Kontaktverboten, vor allem unter dem Gesichtspunkt erörtert, es handele sich um überragend wichtige Maßnahmen des Lebens- und Gesundheitsschutzes, die allerdings im Verhältnis zu eingeschränkten Grundrechten – wie alle in Grundrechte eingreifenden Maßnahmen – am Maßstab des Verfassungsgrundsatzes der Verhältnismäßigkeit zu messen seien.

Dieser postuliert, dass die (für sich legitimen) Maßnahmen einen legitimen Zweck verfolgen, geeignet und erforderlich sein müssen. Es wird dabei meist (1.) eine abschichtende Prüfung vom Zweck her und hin zur Erforderlichkeit vorgenommen und (2.) zumindest bei den ersten beiden Punkten eine sogenannte Entscheidungs- oder Beurteilungsprärogative der Legislative zugrunde gelegt, wonach zumindest der Gesetzgeber ein gewissermaßen angeborenes Recht zur kritikfreien Einschätzung habe bzw. ein Vertrauensvorsprung bei der Beurteilung der Zusammenhanges zwischen Mittel und Zweck zu beachten sei.

Wird dies, gegenüber der Frage nach einer hinreichenden gesetzlichen Grundlage für Grundrechtseingriffe ohnehin nachrangige Frage mit der zutreffenden Gewichtung der einzelnen Elemente der Verhältnismäßigkeitsprüfung beantwortet?

Wie gerade bei der eher zweifelhaften Rechtsprechung zur Prüfung der Rechtsverordnungen der Länder zu Kontaktverboten in der sogenannten Corona-Krise deutlich wird, darf im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung schon die Wahl des Zwecks nur unter Beachtung der Gesichtspunkte von Geeignetheit, Erforderlichkeit, aber auch der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne (dem sogenannten Übermaßverbot) erfolgen. Gleichzeitig muss damit außerdem eine dem Prärogationsgedanken entzogene Rationalitätskontrolle verbunden sein.

Wählt nämlich der Gesetzgeber oder gar die Exekutive eine Zweckbestimmung aus, so wird damit auch der Kollisionsmaßstab für die Erforderlichkeitsprüfung gesetzt. Je empfindlicher die vorgesehenen Eingriffe wirken sollen und damit je erheblicher die Eingriffe in den grundrechtlichen Schutzbereich eindringen, desto höherrangiger muss das zu verfolgen bezweckte Ziel formuliert bzw. „aufgehängt“ werden – so jedenfalls müsste die Aufgabenstellung derjenigen lauten, die die fraglichen Maßnahmen planen und gestalten, wenn sie als zwingend (oder wie man heute sagt: alternativlos) ausgestaltet und weitestmöglich der Kontrolle oder Korrektur der Rechtsprechung entzogen werden sollen. Je heerer die vermeintlich verfolgten Ziele, desto wirkungsloser erweist sich der Abwehrgedanke der Grundrechte gegenüber „durchgreifenden“ Maßnahmen des Staates, die dieser auch über den Gesetzgeber ergreift. Oder: je zielorientierter und drastisch der vorsorgende Staat agiert, desto kraftloser wird der Rechtsstaat.

Der gegenläufige Ansatz des liberalen Rechtsstaates, der die Grundrechte zuerst als Abwehrrechte (status negativus) versteht, müsste dagegen lauten: Gesetzgebung und ausführende Gewalt müssen schon wegen des umfassenden Schutzes der Bürger durch die, alle wesentlichen Aspekte des demokratischen Rechtsstaates schützenden Grundrechte, bei der Formulierung staatlicher Handlungsziele und der Auswahl der zu ihrer Erreichung verwendeten Mittel die Auswirkungen (also Eingriffe) auf die Grundrechte der Betroffenen berücksichtigen. Bewirkt eine Maßnahme den faktischen Entzug eines Grundrechts für weite Bevölkerungkreise, muss die staatliche Maßnahme Zielen wirksam dienen, die nach der Werteordnung des Grundgesetzes zumindest ebenso geschützt sind und in ihren positiven Wirkungen wahrscheinlich vergleichbar weiten Bevölkerungskreisen zu Gute kommen. Aus aktuellem Anlass zugespitzt formuliert: Bewirkt eine staatliche Maßnahme den weitgehenden Entzug fast aller politischen und persönlichen Freiheitsrechte, muss sie der Erreichung höchster verfassungsmäßiger Schutzziele dienen und außerdem zweifelsfrei geeignet sein, diese überragend wichtigen Ziele auch zu erreichen. Im Kern fordert die Verfassung eine strikte Begrenzung staatlicher oder eben politischer Ziele auf die Verwirklichung des Grundrechtsschutzes.

Von einer Entscheidungsprärogative staatlicher Gewalten bleibt danach zumindest bei intendierten intensiven Eingriffen in die Schutzbereiche von Grundrechten von nicht völlig unerheblichem Ausmaß nicht viel übrig. Der an die verfassungsmäßige Ordnung gebundene Gesetzgeber und in besonderem Maße die darüber hinaus auch an Gesetz und Recht gebundene ausführende Gewalt müssen die Ziele Ihres Handelns gewissermaßen immer „von hinten“ entwickeln. Bei der Formulierung des Zieles und vor allem auch der Auswahl und Prüfung der Mittel muss die Verhältnismäßigkeitsprüfung im engeren Sinne bereits mit einbezogen werden. Der verfassungsgemäß handelnde staatliche Akteur muss also gleich zu Beginn der Entwicklung seines politischen Handelns Fragen formulieren: Drohen in Folge meiner politischen Ziele derartige (Grund-)Rechtsbeeinträchtigungen, dass meine Ziele illegitim erscheinen? Was sind dementsprechend die allenfalls verfolgbaren Ziele? Und wie geeignet zu ihrer Erreichung sind die von mir in Betracht gezogenen Mittel?

Wie schon angedeutet, tritt gerade bei der Prüfung der Eignung der Mittel zur Zielerreichung konsequenterweise noch eine weitere Begrenzung des Gedankens der Beurteilungsprärogative auf, die jedoch ohnehin zum Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gehört. Eigentlich aber bei beiden ersten Prüfungsschritten der Verhältnismäßigkeitsprüfung (im weiteren Sinne) ist auch eine Rationalitätskontrolle durchzuführen. Grundrechtsbeeinträchtigungen können nur durch Annahmen bzw. Prognosen gerechtfertigt sein, die von vernunftgeleiteten Überlegungen geprägt und von wissenschaftlich prüfbaren Erwägungen geleitet sind. Die Erprobung von noch nicht bewährten Mitteln, die nach kritisch-rationaler Prüfung als nicht mit hinreichenden Wahrscheinlichkeit geeignet erscheinen, das gesetzte legitime Ziel zu erreichen, sind bei grundrechtsrelevantem Handeln im Zweifel unverhältnismäßig. Je umfassender die Folgen staatlichen Handelns grundrechtsrelevant wirken, desto kritischer muss der Maßstab der Prüfung hinreichender Geeignetheit des Handelns bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung sein. Im Kern fordert der allem staatlichen Handeln als Begrenzung vorausgesetzte Grundrechtsschutz eine rigorose rationale Prüfung der Wahrscheinlichkeit einer Zielerreichung.

Zu welchem Ergebnis führen die vorgestellten Erwägungen hinsichtlich der Verhältnismäßigkeit der aktuellen Maßnahmen zur Bewältigung der sogenannten Corona-Krise?

Geht der Blick zunächst auf die grundrechtsrelevanten Folgen des aktuellen staatlichen Handelns, so besteht offenbar Einigkeit, dass weite Teile des Grundrechtsschutzes von sämtlichen Bürgern und der gesamten Bevölkerung außer Kraft gesetzt sind.

Als legitimes Ziel staatlichen Handelns kommt dann nur der Schutz von Leben und Gesundheit weiter oder zumindest nicht unerheblicher Bevölkerungskreise in Betracht, für den die Aussetzung weiter Teile des Grundrechtskatalogs zu rechtfertigen erwogen werden kann.

Aber sind „Shut-Down“ und Kontaktverbote überhaupt mit dem Ziel verhängt, Leben und Gesundheit von Teilen der Bevölkerung gegen eine dramatische Bedrohung zu schützen? Ganz sicher nicht – und dies ist nicht einmal umstritten. Nach den objektiven medizinischen und epidemiologischen Umständen sowie den allseitigen Erläuterungen der politisch Handelnden (und die gesetzgeberischen Zwecke Formulierenden), soll die epidemische Verbreitung des Virus verlangsamt werden, um insbesondere die intensivmedizinische Versorgung von Schwersterkrankten zu gewährleisten und damit die diesbezügliche Leistungsfähigkeit des Gesundheitssystems zu schützen.

Nach allen vorliegenden virologischen Erkenntnissen stand schon vor Ergreifen der Maßnahmen außer Frage, dass SARS-CoV-2 kein sogenannter Killervirus ist, eine Infektion bei über 95% der Betroffenen ohne individuell bedrohliche Krankheitssymptome bleibt und die Letalitätsrate deutlich unter 1% liegen dürfte.

Für die Erhaltung der Gesundheit der Gesamtbevölkerung oder gar den Ausschluss des Versterbens infizierter Schwerstkranker sind die Maßnahmen außerdem völlig ungeeignet und mit Blick auf die heilsame Wirkung der sogenannten „Durchseuchung“ sogar kontraproduktiv.

Die Erreichung dieses sicher legitimen Zweckes, die Krisensicherheit der intensivmedizinischen Betreubarkeit von lebensbedrohlich gefährdeten Patienten in epidemischer Zahl als Aspekt eines funktionieren Gesundheitssystems, kann jedoch nicht im Entferntesten als legitimes Ziel im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung angesehen werden, wenn die eingesetzten Mittel eine weitestgehende Aussetzung des Grundrechtsschutzes der Gesamtbevölkerung zur Folge haben – und zwar unabhängig von der geplanten Dauer der Maßnahmen.

Ganz sicher sind die ergriffenen Maßnahmen aber auch in Verfolgung des o.g. legitimen Ziels nicht als relativ mildeste Maßnahme zur Zielerreichung geeignet. Gerade wenn man die unglaublich umfangreichen finanziellen Mittel zur Abmilderung der wirtschaftlichen Folgen bzw. zu erwartenden Schäden der ergriffenen Maßnahmen (von mehreren hundert Milliarden Euro) berücksichtigt, wäre die hinreichende Stärkung des Gesundheitssystems durch direkte Investitionen in die intensivmedizinische Infrastruktur ein deutlich sicherer erreichbares und damit geeigneteres und offenkundig grundrechtlich ganz erheblich milderes Mittel gewesen – bzw. müsste sogar als ein staatliches Handeln angesehen werden, das weitestgehend ohne negative grundrechtsrelevante Folgen geblieben wäre.

Wiewohl der Umstand, dass derartig drastische grundrechtsbeeinträchtigende Maßnahmen in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland noch nie in Erwägung gezogen wurden (obwohl sehr wohl vergleichbare epidemische Krisen in der Vergangenheit stattgefunden haben), dieses Ergebnis einer verfassungsrechtlichen Beurteilung insbesondere der Verhältnismäßigkeit ohnehin naheliegend erscheinen ließ: Es dürfte mit einiger Sicherheit feststehen, dass die ergriffenen Maßnahmen, die vermutlich die weitreichendste Wirtschaftskrise der Moderne auch in Deutschland zur Folge haben werden, am Maßstab des Verhaltnismäßigkeitgrundsatzes des Grundgesetzes unverhältnismäßig und damit insgesamt verfassungswidrig sind.

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