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Bis zur Kenntlichkeit

Weshalb die antiisraelischen Demonstrationen nicht verboten oder staatlich bekämpft werden dürfen, wenn man Rechtsstaatlichkeit und Demokratie (wieder) ernst nehmen will.

von Tobias Gall und Dirk Sattelmaier

Das staatliche Handeln gegen die Corona-Maßnahmen-Gegner hat die Erosion des demokratischen Rechtsstaats offensichtlich gemacht. Die Grundprinzipien des Versammlungsrechts wurden faktisch ignoriert und auch ihre schlechthin konstituierende Bedeutung für die freiheitlich-demokratische Staatsordnung mit Füßen getreten. Diese Erkenntnisse führen zu schmerzlichen Schlussfolgerungen, wenn man das Demonstrationsgeschehen um die Hamas-Anhänger betrachtet und das staatliche Handeln rechtlich überprüft. Muss man sich nicht mit Kritik zurückhalten, wenn Behörden die dort massenhaft vorkommenden antiisraelischen und vor allem völlig enthemmt antisemitischen Parolen zu unterbinden suchen? Wer das so sieht, hat das demokratische Versammlungsrecht nicht verstanden.

Zunächst einmal muss man ein Missverständnis beiseite räumen: Ja, das Grundrecht der Versammlungsfreiheit ist ein Deutschen-Grundrecht („Bürgerrecht“), nur wer deutscher Staatsbürger ist, übt ein Grundrecht aus, wenn er sich im Sinne des Art. 8 GG versammelt. Neben dem Diskriminierungsverbot zugunsten von EU-Ausländern (Art. 18 AEUV) bewirkt aber auch die sog. Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes wegen Art. 20 Nr. 1 AEMR, Art. 21 Zivilpakt und Art. 11 EMRK einen grundrechtsgleichen Schutz der Versammlungsfreiheit für alle Ausländer und auch Staatenlose. Alle Versammlungsgesetze gestalten dementsprechend die Versammlungsfreiheit als „Jedermannsrecht“ aus. Die Staatsangehörigkeit von Versammlungsteilnehmern kann also einen Eingriff in die Versammlungsfreiheit der Teilnehmer zu keinem Zeitpunkt ihres Schutzes rechtfertigen.

Schon vom Schutzbereich der Versammlungsfreiheit nicht umfasst sind natürlich unfriedliche Versammlungen, was im verfassungsrechtlichen Sinn gewalttätige Versammlungen meint, die zum einen aktive Gewalttätigkeit gegen Personen oder Sachen voraussetzen und zum anderen erfordern, dass solche Gewalttätigkeiten nicht nur von Einzelnen ausgehen dürfen, sondern von der Gesamtgruppe getragen sein müssen, um der Versammlung die Friedlichkeit zu nehmen. Da der tatsächliche Verlauf angemeldeter Versammlungen bei Anwendung legitimer Prognoseinstrumente auch und vor allem wegen der versammlungstypischen Dynamik regelmäßig nur schwer vorherzusehen werden kann, ist ein vorheriges behördliches Verbot nach der Rechtsprechung nur unter extrem engen Voraussetzungen rechtmäßig und darf nur als allerletztes Mittel in Betracht gezogen werden. Die Auflösung der Versammlung vor Ort ist dagegen häufiger als rechtmäßig zu bewerten. Dies gilt vor allem dann, wenn die Versammlung insgesamt einen gewalttätigen Verlauf nimmt.

Der Schutzbereich umfasst jedoch nicht nur – völlig unabhängig von ihrer Anmeldung – die Organisation und Vorbereitung der Versammlung, die Wahl von Ort, Zeit, Ablauf und Gestaltung der Versammlung und ihre Durchführung. Vielmehr ist auch die polizeiliche Überwachung und das gezielte Verfolgen von aus der Versammlung heraus begangener Taten im Zweifel als Eingriff in die Versammlungsfreiheit aller Teilnehmer rechtfertigungsbedürftig. Hier kommt ein Rechtsbegriff ins Spiel, der in besonders verhängnisvollem Umfang im Zusammenhang mit den Corona-Protesten zu massiv rechtswidrigem Verhalten der Polizei geführt hat: Nach dem Prinzip der Polizeifestigkeit des Versammlungsrechts bedürfen Maßnahmen gegen eine Versammlung als solche stets einer Rechtsgrundlage aus dem Versammlungsrecht. Eine Handlungsermächtigung für die Vollzugspolizei nach dem Gefahrenabwehrrecht reicht nicht aus. Wird eine Gewalttätigkeit aus einer Versammlung heraus begangen, kann gegen die Versammlung als solche schlicht nicht vorgegangen werden. Bei den Coronamaßnahmen-Demonstrationen hat demgegenüber die Polizei regelmäßig sog. „freiheitsentziehende Maßnahmen“ wegen Verstößen nach den Corona-Maßnahmen-Verordnungen gegen eine Vielzahl von Versammlungsteilnehmern ergriffen, die ganz offenkundig gegen die Versammlung als solche gerichtet waren. Dieser gezielt rechtswidrige Umgang mit Versammlungen erfolgte stets nur – so der Polizeijargon – gegen Versammlungen des „Querdenker-Milieus“.

Insgesamt litt die Rechtmäßigkeit der polizeilichen Praxis gegenüber Corona-Demonstrationen unter dem systematischen Mangel, dass nicht von deren prinzipiellen verfassungsrechtlichen Schutzwürdigkeit und -bedürftigkeit ausgegangen wurde. Wie schon angedeutet kommt den politischen Kommunikationsrechten wie der Versammlungsfreiheit eine schlechthin konstituierende Bedeutung für die freiheitlich-demokratische Staatsordnung zu, die es verfassungsrechtlich gebietet, allenfalls gleich- oder sogar nur höherwertige zumindest grundrechtsgleiche Rechte zur Rechtfertigung von Eingriffen in den Schutzbereich der Versammlungsfreiheit heranzuziehen. Das faktische politische und behördliche Handeln stand dazu jedoch in scharfem Widerspruch: Versammlungen gegen die zum Ausdruck gebrachte Rechtswidrigkeit von Coronamaßnahmen wurden stets als Gefahrenquellen behandelt, von denen Rechtsgutsverletzungen für das Leben oder die „Volksgesundheit“ oder gar die „Demokratie“ bzw. die Legitimität staatlichen Handelns ausgingen. Versammlungen, die berechtigte politische Belange betrafen, waren lebendiger Ausdruck einer wehrhaften Demokratie – sie stellten sich nach Auffassung der Politik dagegen als Gefahr für die freiheitlich-demokratische Grundordnung dar. Der ganz primitive Grund dafür war schlicht, dass man auf Seiten der Politik und der überwältigenden Mehrheit der medialen Öffentlichkeit die dort vertretenen Meinungen nicht nur nicht teilte, sondern für unvertretbar oder einfach „böse“ hielt. Im Ergebnis dieser Beurteilung solcher Versammlungen als Gefahren oder Störungen „der öffentlichen Sicherheit und Ordnung“ (im untechnischen Sinn), setzte man das Instrumentarium des Versammlungsrechts systematisch zumindest zu deren Behinderung bzw. auch zur Verhinderung ein.

Diese politische Praxis gegenüber fast sämtlichen Versammlungen der Coronamaßnahmenkritik waren derartig offenkundig und auch gegenüber der Öffentlichkeit letztlich ausdrücklich kommuniziert worden, dass man, ohne zu übertreiben von einer weitgehenden Aushebelung des grundrechtlichen Schutzes der Versammlungsfreiheit sprechen kann. Die Corona-Versammlungen wurden nicht wegen den Umständen ihrer tatsächlichen Umsetzung verboten, behindert und aufgelöst, sondern letztlich wegen der auf ihnen vertretenen Auffassungen zum staatlichen Vorgehen im Zusammenhang mit der sog. Pandemiebekämpfung – mit deren Legitimität, Eignung und Angemessenheit die Versammelten in keiner Weise einverstanden waren, sondern die als Angriff auf die Rechtsstaatlichkeit als solche verstanden wurden. Motivation und politisches Handlungsziel des Umgangs mit diesen Versammlungen war also das fehlende Einverständnis bzw. das völlige Unverständnis mit den auf den Corona-Veranstaltungen vertretenen Meinungen.

Nach ganz gefestigter Rechtsprechung auch des Bundesverfassungsgerichts gilt der Gesetzesvorbehalt des Artikels 8 Abs. 2 GG jedoch nur für sogenannte versammlungsspezifische Eingriffe. Für meinungsspezifische Eingriffe ist dagegen ein staatliches Eingriffshandeln verfassungsrechtlich an den sehr viel strengeren Maßstäben des Art. 5 GG zu messen. Ohne hier nun die anspruchsvolle Diskussion über die Bedeutung des Begriffs „allgemeine Gesetze“ nachzuvollziehen und auch ohne die, die Rechtfertigung von Eingriffen weiter erheblich einschränkende Wechselwirkungslehre des Bundesverfassungsgerichts zu erläutern, wird man mit Sicherheit sagen können, dass die auf Grundlage des § 28a IfSG erlassenen Coronamaßnahmen-Verordnungen keine Gesetze sind, die „dem Schutze eines schlechthin, ohne Rücksicht auf eine bestimmte Meinung, zu schützenden Rechtsguts dienen, dem Schutze eines Gemeinschaftswerts, der gegenüber der Betätigung der Meinungsfreiheit den Vorrang hat“ (BVerfGE 7, 198/209 f.). Mit Blick auf die Versammlungsfreiheit muss das allein schon deshalb ausscheiden, weil nicht einmal § 28a IfSG „Versammlungen im Sinne des Art. 8 GG“ ausdrücklich oder auch nur mittelbar nennt. Das hat im Übrigen sogar die frühe Rechtsprechung sogleich erkannt. Schon früh wurde deshalb konzediert, dass für die pandemiebedingten Einschränkungen der Versammlungsfreiheit Grundrechte hermüssen, die gegenüber dem Schutz der Meinungsfreiheit den Vorrang haben. Das war dann der Ausgangspunkt für die aufsehenerregende These, dass Coronamaßnahmen-Demonstrationen eine Gefahr für das Leben bzw. die Gesundheit von unbeteiligten Menschen darstellen. Nicht nur unter Berücksichtigung der in vielen Jahrzehnten entwickelten rechtlichen Begrifflichkeiten des Gefahrenabwehrrechtes („dringende“ Gefahr „für Leib und Leben“, „Anscheinsgefahr“, „Gefahrenverdacht“ etc.), sondern vor allem auch der Rechtsfiguren zur Insverhältnissetzung kollidierender Grundrechte (wie insb. der sog. „praktischen Konkordanz“) wird man nicht allzu optimistisch sein müssen, wenn man hofft, dass in nicht allzu ferner Zukunft auch die unmittelbar an der Erosion des Rechtsstaats verantwortlich beteiligten Juristen begreifen werden, wie befremdlich daneben sie mit ihren Pseudobegründungen lagen.

Aber selbst dem auf äußersten Abwegen argumentationsbereiten Juristen kann es nicht gelingen, eine zumindest oberflächlich schlüssige, verfassungsrechtlich halbwegs nachvollziehbare Begründung dafür zu entwickeln, die derzeit allerorten einberufenen Versammlungen von Hamas-Anhängern zu verbieten oder die schon erfolgten Verbote als legitim zu rechtfertigen. Gemeint sind damit nur solche Versammlungen, die überhaupt dem Schutzbereich des grundrechtlich geschützten Versammlungsrechts unterfallen, also solche, die nicht auf eine aktive Gewaltausübung der versammelten Gesamtgruppe ausgerichtet ist oder einen derartigen Verlauf nehmen.

Es geht vielmehr um das Verbot von Versammlungen wegen des von vielen als unerträglich empfundenen und meist auch drastisch zum Ausdruck gebrachten Inhalts der geteilten politischen Überzeugungen, um die Äußerung schlechthin nicht vertretbarer Ansichten oder um den Ausdruck geradezu als widerlich zu empfindender, menschenverachtender Auffassungen der Versammlungsteilnehmer. Es geht um Meinungen, die so abstoßend und widerwärtig sind, dass man, ohne irgendwelche Meinungsumfragen durchzuführen, sogleich feststellen kann, dass sie von einem überwältigenden Großteil der Bevölkerung und der politischen Öffentlichkeit als unsagbar und in der Öffentlichkeit nicht äußerbar angesehen werden. Das wird hier so drastisch beschrieben, um die hier vertretene versammlungs- und verfassungsrechtliche Einschätzung möglichst gründlich dem Verdacht zu entziehen, sie sei von irgendeiner Sympathie für die bei entsprechenden Versammlungen vertretenen Meinungen auch nur berührt.

Es gilt bei der rechtlichen Beurteilung von bei Versammlungen zum Ausdruck kommender Meinungen nämlich schlicht darum, wieder auf den Kern der völlig richtigen These zurückzukommen, wonach insbesondere die Meinungsfreiheit eine wichtige – abgesehen von Wahlen sogar die wichtigste – konstituierende Bedeutung für die freiheitlich-demokratische Staatsordnung hat. Wir haben es nämlich in der jüngsten Vergangenheit erlebt, wie eine an sich offenkundig rechtsstaatsfeindliche Politik mit polizeistaatlichen Mitteln und einer Argumentationstechnik des Ausnahmezustandes die Lebensverhältnisse in Deutschland gewissermaßen nur deshalb auf den Kopf stellen konnte, weil ein Kartell der Wohlmeinenden (den „Anointed“ von Thomas Sowell) mal wieder die Verteidigung des demokratischen Rechtsstaats zum „Unsagbaren“ entstellte. Wenn es den propagandistischen Profis gelingt, eine Position moralisch zu diskreditieren – also ohne eine rationale Unterfütterung als verwerflich darzustellen – so gelingt es mühelos, diese Position aus dem demokratischen Diskurs auszuklammern. Das konnte nicht nur bei der im Gegensatz zu jeder Wahrhaftigkeit geführten Pandemie-Debatte besichtigt werden, sondern bei allen politischen Großerzählungen, wie der Klimakrise, der Migrationskrise, der LGBTQIA+-Unterdrückungsbekämpfung (bzw. der generelle Fixierung auf ein postmodernes Unterdrückungs-Dogma) oder dem verheerenden Ukrainekrieg. Stets wurde auch die moderateste Skepsis oder gewichtende Einordnung und sogar – man stelle sich das einmal ideologiefrei vor - ein schlichter Friedenswunsch mit dem Ziel dämonisiert, nicht nur jeden Streit, sondern gar jeden Diskurs im Keim zu ersticken.

Die allein menschengerechte politische Grundidee der Aufklärung, den Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit sich befreien zu lassen, fordert aber nun mal zwingend den Mut, sich des Verstandes ohne Anleitung anderer zu bedienen. Das kann (und soll) aber nicht gelingen, wenn die überwältigende Mehrheit immer nur einer vermeintlich einzig vertretbaren Auffassung ausgesetzt ist und medial orchestriert nur zu der „Erkenntnis“ gelangen soll, dass selbst gestellten Fragen nachzugehen, direkt in den Abgrund des Bösen führen müsse.

Dieser Konsenswahn, der spätestens seit den 70er Jahren jeden politischen Streit als verwerflich und „umstrittene“ Positionen und auch Personen als amoralisch brandmarkt, muss – spätestens, seit in seinem Schatten ein neuer Totalitarismus marschiert – so entschieden wie möglich gestört werden. Die Flügel des Overton-Fensters müssen nicht nur aufgerissen werden, sondern ausgehängt und mitsamt Rahmen beseitigt werden. Wir müssen wieder streiten und einander in unserer rationalen Vernunft ernst nehmen. Dazu müssen im demokratischen Diskurs die allen Streit im Keim erstickenden Empfindsamkeiten genauso wie die allgegenwärtige Demagogie abgelegt werden. Menschliche Erkenntnis bedeutet dem Chaos Strukturen abzuringen, Demokratie bedeutet, in der unendlichen Vielstimmigkeit einen für die meisten gangbaren – und damit vernünftigen – Weg zu entdecken.

Wie gesagt erfordert das Mut. Den Mut sich seines eigenen Verstandes zu bedienen. Faulheit und Feigheit im Kant’schen Sinne bedeutete es für die Versammlungskultur, die verstörenden und unappetitlichen Überzeugungen und Emotionen gar nicht erst an sich ranzulassen. Die Provokation offen skandierten Antisemitismus der Hamas-Anhänger ist skandalös – und hat das Wesen der Hamas als Mördersekte ohne jedes legitimes politisches Ziel zusammen mit den gefeierten Taten kenntlich gemacht. Und es hat der Debatte um den sog. Palästina-Konflikt einen Schubs in die richtige Richtung gegeben. Das Verbot der Versammlungen von Hamas-Anhängern ist gleichwohl unter keinem denkbaren Gesichtspunkt rechtlich haltbar. Und gerade diejenigen, die sich in den letzten dreieinhalb Jahren für den Rechtsstaatsgedanken und eine wehrhafte Demokratie eingesetzt haben, sollten sich auch jetzt diszipliniert an ihre Prinzipien halten. Und diejenigen, die in den letzten Jahren die Verbote der Corona-Demonstrationen bejubelt haben, dürfen sich nicht wundern, wenn ihre Versammlungen vielleicht morgen schon verboten werden, weil sozusagen über Nacht die von Ihnen vertretene Meinung auf einmal nicht mehr in das einzig sagbare Meinungsbild passen.

Das darf nur bedeuten, sich gewaltfrei in die Debatte zu stürzen und leidenschaftlich mit schärfsten Argumenten streiten. Die Motive staatlicher Versammlungsverbote sind dagegen fast so widerwärtig, wie die Motive der Hamas – eine bewusst provokativ aufgestellte These, die hoffentlich eine erbitterte Auseinandersetzung über ihre Sagbarkeit auslöst

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